Klar ist, in Niedereimer wird bald die Binnenkonjunktur belebt. Ob das für einen wummsigen Wirtschaftsaufschwung reicht, weiß man noch nicht. Aber es hört sich erst einmal vielversprechend an, was auf dem großen Bauschild angekündigt wird: moderne Einkaufsatmosphäre, großzügiger Eingangsbereich, breite und helle Gänge, die Frische-Insel und nicht zuletzt eine hohe Energieeffizienz. All das, bald hier, im Dorf von Friedrich Merz.
Darauf, oder auf ihn, könnte man jedenfalls mal ein, zwei, drei lecker Pils trinken, und das passiert später auch bei der Schützenbruderschaft St. Stephanus. Es ist der letzte Tag im April, die Sonne strahlt über saftigen Wiesen. Alles neu macht der Mai? Tanz in den Merz?
Friedrich Merz gewinnt erneut den Hochsauerlandkreis
Im weit entfernten Berlin wird an diesem Dienstag aller Voraussicht nach ein Mann zum Bundeskanzler gewählt, der sich offensiv zu seiner Heimat bekennt. Sein Slogan: „Mehr Sauerland für Deutschland.“ Dass sich die Domain dafür SPD-Konkurrent Dirk Wiese sicherte – ärgerlich, aber geschenkt. Der Sauerländer (m, w, d) als solcher, so es ihn tatsächlich gibt, redet gern prägnant. Also: Wichtig ist, was hinten rauskommt. Und das war, dass Joachim-Friedrich Martin Josef Merz den Hochsauerlandkreis mit 47,7 Prozent der Erststimmen gewonnen hat. Ob deshalb auch ganz Niedereimer hinter „Friddrich“ steht, wie man hier zu sagen pflegt? Mal sehen. Aber vor Ort nachfragen, quasi eine kleine Moped-Runde drehen, muss sein. Wenn Deutschland künftig mehr Sauerland wagen will, sollte der Rest des Landes vielleicht wissen, wie das so ist, wenn Niedereimer Kanzler wird.

Wer nicht gerade mit einer Diamond DA62 zum Flugplatz Arnsberg-Menden propellert, erreicht das Örtchen ungefähr so: Von Süden kommend in Köln umsteigen, in die Bahn nach Hagen, von da in den Regionalzug nach Arnsberg, von da in den Bus C1. Der hält dann, kein Scherz, an der Haltestelle „Zur Friedrichshöhe“. Schon ist man da. Noch schnell nachgefragt, wo nun genau die Ortsmitte sei und einen freundlichen Wink bekommen hin zu einem riesenhaften Baum, definitiv ohne Wachstumsschwäche. „Hier, die alte Eiche“, das sei Arnsberg-Niedereimer, Mitte.
Niedereimer: So richtig Rambo Zambo ist vielleicht woanders
Erstmals 1207 in einer Urkunde des nahen Klosters Meschede erwähnt, war der Ort in den ersten Jahrhunderten hauptsächlich land- und forstwirtschaftlich geprägt gewesen. 818 Jahre danach leben hier rund 2000 Einwohner. Es gibt ein paar Betriebe, ein paar Leerstände, es gibt die aus roh-behauenem Sandstein errichtete Kirche St. Stephanus, einen Kindergarten, eine Bücherei, den TuS 1910 Niedereimer e. V., Bäcker Hahne, den Friedrich Merz dem Vernehmen nach gelegentlich auch selbst aufsuchen soll, und einen gelben Briefkasten, der Montag bis Samstag um 9 Uhr geleert wird. Auf die Klappe hat – mutmaßlich – so ein Krawallbruder diesen Sticker gepappt: „No Pyro, no Party“. Was soll man sagen? So richtig Rambo Zambo ist vielleicht woanders. Kann man sich aber auch täuschen. Fest steht für den Moment: Niedereimer ist wie so viele Orte auf dem Land sehr beschaulich gelegen, die Niedereimerer, die man trifft, sind freundlich und hilfsbereit – und haben damit so manchem Bundeshauptstädter schon mal was voraus.

Man kann sich jedenfalls gut vorstellen, wie Merz hier unterwegs ist. Wenn er denn da ist. Allein, zu sehen bekommt man ihn bei diesem kurzen Ausflug nicht. Umso öfter fährt die Polizei durch die Ortsstraßen. Auch der kommende Bundeskanzler hat natürlich besonderen Personenschutz. Daran stört sich von den Niedereimerern, die man trifft, aber niemand. Mehr Sicherheit finden in diesen Zeiten die meisten gut. Nur beim Hotel „Zur Post“ in Bruchhausen, ein Örtchen weiter, da hängt zwischen den Aushängen von Gesangs- und Taubenverein noch der Weihnachtsbrief 2024 der örtlichen CDU. Der Vorstand schreibt, 2025 werde ein spannendes Jahr, in dem hoffentlich die „richtigen Weichen“ für ein zukunftsfähiges Land gestellt würden. Darunter also das Antlitz von Merz mit dem Satz „Für ein Deutschland, auf das wir wieder stolz sein können“.

Nun ist Stolz in Deutschland ein ziemlich ambivalentes Gefühl. Und worauf die Deutschen stolz sind oder sein wollen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Sind sie stolz auf Merz? Die Niedereimerer, zumindest die, die erzählen wollen, finden jedenfalls mehrheitlich gut, dass einer der ihren jetzt in Berlin übernimmt. Mareen König zum Beispiel ist sehr gut auf Merz zu sprechen und stolz auf ihre Tochter Emmily. König ist gerade zum Abendspaziergang mit ihrem Hund unterwegs. Sie erzählt, dass Emmily die Jahrgangsbeste auf ihrer Realschule war und Boots- und Yachtbauerin werden wolle. Als Merz 50 wurde, haben der CDU-Chef und seine Frau Charlotte in Arnsberg eine Stiftung gegründet. Die fördert die Ausbildung junger Leute. Mit einem, wie die Mutter sagt, „sehr großzügigen“ Stipendium kann ihre Tochter auf Vancouver Island ihren Traum verwirklichen. Ohne Merz' Unterstützung wäre das nicht möglich gewesen, sagt sie. Unabhängig davon findet auch sie: „Wir freuen uns, dass einer aus unserem Dorf Kanzler wird.“
Friedrich Merz ist in Niedereimer streng genommen ein Zugereister
Dabei ist Merz in Niedereimer streng genommen ein Zugereister. Geboren wurde er 1955 im etwas weiter östlich gelegenen Brilon. Er war das Älteste von vier Kindern. Sein Vater war Richter am Landgericht, die Mutter war die Tochter des Bürgermeisters. Auch Merz wird Jurist, entdeckt seine Strebsamkeit allerdings erst nach dem Abitur. Seine Frau, heute Direktorin des Amtsgerichts Arnsberg, und er lernen sich während der Unizeit kennen, ganz klassisch auf einer Party. Sie sagt in einem Welt-Interview, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen. Die beiden bekommen drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, alle erwachsen und außer Haus, insgesamt gibt es sieben Enkel. Wer bei Merz vorbeischlendert, sieht ein verklinkertes Haus, ein gepflegtes Anwesen. Ist das nun „gehobene Mittelschicht“ oder doch etwas mehr? Sicher ist nur, es dauert nicht allzu lange, bis die Polizei wieder ihre Runde dreht.

Waltraud Kapol wohnt nicht weit von Friedrich Merz. Wie er auch ist sie Zugereiste. Von ihrem wunderbar grünen Garten kann sie, wenn das Laub nicht so dicht ist, bis auf dessen Terrasse blicken. Auch sie ist sehr diskret: Privates soll privat bleiben. Für Merz ist Niedereimer auch ein Rückzugsort. Kapol hat, es ist der 1. Mai, zwei Freundinnen eingeladen, die gerade ankommen, als es um den bekannten Nachbarn geht. Man setzt sich, frisch gepresster Orangensaft wird gereicht, und dann sagen die beiden, dass sie schon „stolz“ seien. Kapol hingegen hat eher „gemischte Gefühle“. Was sie sich erwartet? „Dass er was bewirkt.“ Und: „Dass er hält, was er verspricht.“ Dass Merz im Wahlkampf sparsame Haushaltspolitik angekündigt hat, nur um Tage danach die Aufnahme von Rekordschulden zu verkünden, nimmt sie ihm „übel“.
Was allerdings weder Kapol noch seine politischen Gegner ihm absprechen, ist, dass Merz wirklich will. 69 Jahre ist er. 1994 wechselte der damalige Europaabgeordnete von Brüssel nach Bonn, machte sich als schmissiger Redner schnell einen Namen, wurde – wie Angela Merkel – von Wolfgang Schäuble gefördert und schließlich Vorsitzender der Bundestagsfraktion. Der Rest ist Geschichte. Merkel verdrängt ihn, wird Kanzlerin, Merz zieht sich zurück, arbeitet wieder als Anwalt, macht – unter anderem – beim weltgrößten Vermögensverwalter Blackrock sein Vermögen, was ihm bis heute Kritik einbringt. Als sich das Ende der Ära Merkel abzeichnet, versucht er ab 2018 sein Comeback. An der CDU-Spitze muss er aber erst Annegret Kramp-Karrenbauer, dann Armin Laschet den Vortritt lassen, erst nach der verlorenen Bundestagswahl 2021 ist die Zeit für ihn reif. Im Dezember 2021 wird er CDU-Parteivorsitzender und 2022 erneut Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Bei der Wahl im vergangenen Februar bleibt die Union mit ihm als Kanzlerkandidat zwar deutlich hinter den Erwartungen, aber es reicht. Der 1,98-Meter-Mann überragt nun alle, ist am Ziel und wird, sollte an diesem Dienstag im Bundestag nicht etwas gewaltig schiefgehen, der zehnte Kanzler (lässt man Walter Scheels neun Tage im Amt mal weg) Deutschlands. Nach 31 Jahren am Ziel.
Schützenkönigin Chrissi Hoffmann blickt hoffnungsfroh auf die Kanzlerschaft von Merz
Schon 1994 hatte Merz, damals noch mit adrettem, gescheiteltem Haupthaar versehen, in einem inzwischen legendären Wahlkampfspot, die Vorurteile, die das konservative Sauerland begleiten, aufs Korn genommen. Fuchs und Hase sagten sich hier gute Nacht. Das hat nie gestimmt und es stimmt auch an diesem Abend drei Jahrzehnte später nicht. Die St. Stephanus Schützenbruderschaft hat unten an der „Wanne“ ein kleines Maifest organisiert. Die Brüder haben sich in zwei Kompanien aufgeteilt, das Nebenflüsschen der Ruhr grenzt ihre Bezirke ab. Merz gehört zur zweiten Kompanie. Käme er, wäre er selbstverständlich herzlich willkommen. Das ist ganz offenbar jeder, denn ehe man sich versieht, hat man ein Pils in der Hand. Und dabei bleibt es an diesem Abend nicht.
Holger Weber ist der Hauptmann der Schützenbruderschaft. Der 52-Jährige kennt Merz vom Dorf her, hat ihn gewählt, und wenn es irgendwo einen Ort gibt, um zu erfahren, was das Sauerländische im Kanzleramt künftig ausmacht, dann hier. Dennoch ist Weber zunächst mal verhalten. Er erwartet sich für den Moment „gar nichts“. Aufwärtsgehen werde es zwangsläufig, denn schlechter als es bisher war, in Deutschland, könne es nicht werden. Meint er.
Das sind aus Merz' Sicht natürlich gute Startbedingungen. Auch die Schützenkönigin Chrissi Hoffmann blickt hoffnungsfroh auf die Kanzlerschaft. Für Merz und Niedereimer. „Er ist einer von uns, ein völlig bodenständiger Mensch.“ Dass Merz bei jungen Frauen eher nicht so ankommt, ist für sie kein Problem. „Er sagt, was er denkt. Jeder soll sich seine eigene Meinung bilden.“ Er werde einen guten Weg machen, ist sie überzeugt. Man müsse ihm jetzt mal die Chance geben, zu agieren und zu reagieren. „Das ist die Aufgabe, die er jetzt hat. Und die ist sicherlich nicht einfach. Man muss gucken, was draus wird. Und in vier Jahren werden wir sehen, was auf seinem Zettel steht.“
Was den Sauerländer auszeichnet? „Eine gewisse Bodenständigkeit und harte Arbeit“
Andreas Blöink, Führer der 1. Kompanie, erhofft sich, dass es wieder „normaler“ zugeht, dass „das normale Leben“ zurückkehrt. Stimmt schon, sagt er, das sei für alle unterschiedlich, aber wenn sie „hier auf dem Dorf“ die Berichte aus Berlin hörten, dann würden sie teilweise nur noch mit dem Kopf schütteln. Er bleibt dabei: „Das normale Leben muss wieder lebenswert gemacht werden. Dass sich Arbeit wieder lohnt, sichere Jobs, das sind Themen, die uns hier beschäftigen.“ Weniger Bürokratie wünscht er sich. „Wenn man überlegt, was wir allein für dieses kleine Fest hier an Anträgen ausfüllen müssen.“ Blöink ist geschäftsführender Vorstand einer sozialen Einrichtung, Haus Silberstreif in Warstein, die Suchtkranke in den Alltag integrieren soll. Was die Sauerländer auszeichnet? „Eine gewisse Bodenständigkeit und harte Arbeit. Das sind Werte, die uns grundsätzlich allen guttun.“ Woke, erklärt Blöink, das sei hier halt nicht. „Das Sauerland“, sagt er, „kann viel Mitte von Deutschland repräsentieren.“ Viele Familien wollten einfach bloß ihr Auskommen haben, nicht jeder müsse Millionär werden. „Einfach nur in Ruhe leben.“ Ob das gelingt? Die AfD wird immer mächtiger, Russland führt noch immer Krieg, Europa driftet auseinander, Donald Trump ist so unberechenbar wie am ersten Tag. Der 38-jährige Blöink glaubt an Merz.
An diesem Dienstag beginnt dessen Kanzlerschaft. Gewiss ist dabei nur eines: So ungewiss waren die Zeiten nie. Aber wegducken gilt in Niedereimer nicht. Schon ein anderer berühmter Sauerländer, übrigens auch aus Arnsberg, wusste: Opposition ist Mist.

Warum sollte man Scheel nicht mitzählen? War er Bundeskanzer oder nicht? Was soll so etwas?
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden